Solange man jung und gesund ist, redet man nicht gerne über Krankheiten. Man hat oft höchstens durch die Eltern oder Großeltern einen Bezug dazu. Biologie und Medizin sind ohnehin nicht gerade die Lieblingsthemen vieler Leute, sie gelten eher als sperrige, langweilige und generell unangenehme Themen. Und wer möchte sich schon freiwillig mit Krankheiten oder gesundheitlichen Problemen beschäftigen? Die Angst vor Krankheiten und das mit-Leiden mit Betroffenen sind abschreckend und oft ist es verständlicherweise sehr verlockend und bequem, das ganze Thema einfach auszublenden. Auch gibt es ja ganz einfach keinen Grund, sich mit Gesundheitsthemen zu beschäftigen, wenn man nicht beruflich damit zu tun hat oder man selbst oder ein nahestehender Mensch direkt davon betroffen ist. Und verständlicherweise beschäftigen wir uns gerne mit Dingen, die für uns angenehm sind und reden auch darüber, wir möchten ja schließlich möglichst viele positive Dinge erleben und auch bei Anderen als positiver Mensch gelten.
Und wenn man eine Krankheit hat, fällt es doch oft schwer, offen damit umzugehen. Man will nicht bemitleidet oder "schief angeschaut" werden, was leider bei manchen Krankheiten auch heute noch vorkommt. Familien mit behinderten Kindern begegnen wir noch immer reserviert, genauso wie erwachsenen Behinderten. Das dürfte allerdings selten böser Wille sein, sondern einfach daran liegen, dass es einem schwerfällt, mit der Situation umzugehen. Man weiß einfach nicht, wie man Behinderten begegnen soll und möchte niemandem auf den Schlips treten oder ihn überfordern.
Aids dagegen ist zum Beispiel noch immer ein Stigma. Auch über Unfruchtbarkeit mag man nicht reden und schämt sich dafür. Es wird eben von einem gesunden Menschen erwartet, dass er fruchtbar ist, und Kinder sind in unserem Bild von einem erfüllten Leben ein Hauptbestandteil.
Nicht zuletzt ist die gesundheitliche Situation ja Privatsache, Krankheiten können als Schwäche ausgelegt werden, und das möchte man natürlich verhindern. Ich lerne auch heute noch Turner-Frauen kennen, die nicht möchten, dass jemand davon erfährt oder wo die Familie es geheim halten möchte. Oft staunen die Leute darüber, dass ich so offen mit dem Turner-Syndrom umgehe, und sie sind bass erstaunt bis schockiert über das, was ich durch das UTS schon alles erlebt habe.
Meiner Meinung und Erfahrung nach lohnt es sich absolut, die eigene Komfortzone zu verlassen, offen über Krankheiten, die man hat, zu reden und sich auch mit Behinderung und Krankheiten auseinanderzusetzen, selbst wenn man ansonsten gar nichts damit zu tun hat.
Ein Grund dafür ist, dass man selbstverständlich schneller von Krankheiten betroffen sein kann, als man denkt. Wenn man generell ein aufgeschlossener Mensch ist, der auf Behinderte und Kranke zugeht, dann verliert das Thema Krankheit und Behinderung seinen Schrecken, weil man erfährt und miterlebt, wie Menschen mit einer Behinderung oder Krankheit ihren Alltag und ihr Leben meistern.
Junge Eltern hören den Begriff Turner-Syndrom normalerweise zum allerersten Mal, wenn sie die Diagnose für ihre Tochter erhalten. Natürlich haben sie dann auch keinen Vorstellung davon, was die Diagnose zu bedeuten hat und was sie für das Leben ihrer Tochter bedeutet. Hier kann Kontakt zu Turner-Mädchen viel Angst und Sorge um die Tochter nehmen und eventuell auch verhindern, dass man sein ungeborenes Turner-Mädchen abtreibt. Und eben gerade deshalb ist ein offener Umgang mit solchen Krankheiten wichtig: Damit junge Eltern weniger Angst haben müssen. Außerdem tut es auch den Betroffenen selbst gut, denn Integration kann nur durch Aufklärung erzielt werden. Ein offener Umgang mit einer Krankheit, die man hat, hilft ja auch beim Umgang und der Kommunikation mit nicht-betroffenen Mitmenschen. Das gegenseitige Verständnis wächst.
Sich mit Themen auseinanderzusetzen, die man ansonsten eher meidet, erweitert immer den Horizont. Kranke und Behinderte haben normalerweise eine andere Weltsicht, andere Prioritäten und generell eine etwas andere Lebenswelt als man selbst. Hier lohnt es sich absolut, einen Einblick zu gewinnen. Und mal ganz ehrlich: Keiner wird euch beißen. Behinderte sind eher dankbar, wenn man Kontakt zu ihnen aufnimmt, denn viele schrecken davor zurück.
Vielleicht stößt die Kommunikation manchmal an Grenzen, ja. Das tut sie mit gesunden Menschen auch. Aber jeder Versuch lohnt sich. Für alle Beteiligten. Und man verpasst eine Menge wunderbarer Menschen, die viel zu bieten haben, wenn man den Kontakt zu Behinderten ablehnt.
Als kleinen Einstieg kann ich für jeden, der Englisch kann, einen wunderbaren YouTube-Kanal empfehlen. Das Projekt heißt Special Books by Special Kids, der Initiator ist Chris Ulmer, der drei Jahre lang als Förderschullehrer gearbeitet hat. Die Videos beinhalten vor allem Interviews, die er mit erkrankten oder behinderten Erwachsenen und Kindern und deren Familienmitgliedern führt. Schaut gerne rein: https://www.youtube.com/channel/UC4E98HDsPXrf5kTKIgrSmtQ