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Die Diagnose verdauen

Ja, das berühmte Aufklärungsgespräch.

Familien und Betroffene empfinden das ganz unterschiedlich, jeder kommt auf seine Weise damit zurecht. Man hört die unterschiedlichsten Geschichten.

Bei mir selbst fand dieses Gespräch statt, als ich gerade 8 Jahre alt war. Ich war in Gießen in der Kinderklinik in Behandlung, man hatte nach meinen beiden Herzoperationen das Turner-Syndrom diagnostiziert. Ich war dafür noch einmal ein paar Tage auf Station gewesen und es wurden ganz unterschiedliche Untersuchungen gemacht, unter Anderem auch der erste Glukosetoleranztest.

Danach stand die Diagnose also fest und ich saß zusammen mit meinen Eltern wieder beim Arzt in der Klinik, der uns geduldig und ausfühlich alles erklärte.

Was genau er gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Er hat aber genau die Zusammenhänge mit den Chromosomen erklärt und welche Symptome damit zusammenhängen, zumindest dass es wohl die Ursache für meinen Herzfehler und den Kleinwuchs war und dass ich einmal keine Kinder bekommen können würde. Einige Hormontherapien sollte ich auch machen, Wachstumshormone sollte ich bekommen um möglichst über 1,50 m groß zu werden und später dann eine Therapie mit weiblichen Hormonen um mich zu einer Frau zu entwickeln.

Ich hatte das alles ganz gut verstanden und war froh, endlich zu wissen, weshalb ich so klein war und den Herzfehler hatte. Ich las in dieser Zeit sehr viel über das UTS, da wir auch viele Infobroschüren bekamen. Es interessierte mich brennend, wie mich alle biologisch-medizinischen Themen damals schon interessierten. Ich war sozusagen eine sehr gut informierte Achtjährige.

Meine Eltern waren erstmal schockiert, wie es wohl alle Eltern sind, wenn sie davon erfahren. Ich sollte auch möglichst mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit anderen Familienmitgliedern. Meine Eltern wollten dummer Ausfragerei und Getratsche aus dem Weg gehen, oder einfach vermeiden, dass sich jemand unnötig Sorgen machen muss.

 

Ich habe das prinzipiell alles als sehr interessant und, dafür dass man von seinem eigenen Chromosomenfehler erfährt, auch angenehm empfunden. Ich war ja nun offiziell etwas ganz besonderes. Dass meine Eltern schockiert reagierten und ich nicht darüber reden sollte verstand ich zwar nicht, aber ich fand es auch nicht schlimm. Irgendwie war das Ganze eher faszinierend.

 

Gut war vor allem, dass der Arzt uns gleich Infobroschüren der deutschen Ullrich-Turner-Syndrom-Vereinigung mitgegeben hat und dass es damals schon in Gießen eine sehr aktive Kontaktgruppe gab, wo man Betroffene kennen lernen konnte und die sogar Vorträge organisierten, bei denen man etwas über das Syndrom und seine Symptome lernen konnte.

Unser Arzt hat uns also nicht einfach mit Bildern und Fachbegriffen aus der Fachliteratur überfallen, sondern alles wirklich gut und verständlich erklärt und eben vor allem Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und zum Erfahrungsaustausch in den noch quasi internetfreien 90'ern aufgezeigt.

 

Jede Betroffene hat ihre eigene Geschichte. Wenn die Diagnose schon in der Schwangerschaft oder kurz danach gestellt wird, stellt sich für Eltern irgendwann die Frage: Wann und wie erkläre ich es meinem Kind? Wie vermittle ich ihm zum Beispiel, dass es Wachstumshormone bekommen soll, und zwar im Kleinkindalter, in dem es die Genetik noch nicht erfassen kann? Viele Eltern greifen dafür zu kindgerechten Geschichten, indem sie dem Kind zum Beispiel erklären, dass manchen Menschen ein Baustein im Körper fehlt, und dann muss man mit den Spritzen etwas beim Wachsen helfen, weil diese Menschen ansonsten sehr klein bleiben. Schlimm ist dann vor allem für viele Mütter, die Tochter langsam und schonend darauf vorzubereiten, dass sie eben nicht auf normalem Wege Kinder bekommen kann. Mädchen fangen manchmal schon sehr früh an, Mama zu spielen, und da kann das eine sehr große Belastung sein. Außerdem sind ja manchmal auch ältere Geschwister da, die das Ganze auch verstehen sollen und müssen und auch durchaus ihren Beitrag dazu leisten können, dass auch die Betroffene selbst es versteht und damit umgehen lernt.

 

Wenn man die Diagnose erst im höheren Alter bekommt, sieht die Geschichte etwas anders aus. Dann kennt man ja bis zum gewissen Grad seinen Körper schon und weiß auch schon eher, was man kann und wo die eigenen Grenzen sind. Auch die Eltern wissen das dann und können die Situation ihres Kindes viel besser einschätzen, als wenn die Diagnose bereits in der Schwangerschaft oder im Kleinkindalter kommt. Meine Eltern zum Beispiel hätten sich viel sagen lassen, aber bestimmt nicht, dass ich geistig behindert wäre. Sie wussten ja, welche Leistungen ich in der Schule erbrachte und was ich konnte.

 

Vor allem früher gab es auch Betroffene, die sich von den Ärzten und eigenen Eltern übergangen und teilweise richtig schlecht behandelt fühlten. Die als unfähiges, dummes, kleines "Katastrophenkind" hingestellt wurden. Dass sich so etwas auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind fatal auswirkt, ist wohl klar. Heutzutage kommt das gottseidank so gut wie gar nicht mehr vor.

Was Betroffene leider auch heute noch manchmal berichten ist, dass die Eltern Turner-Mädchen als Bürde und das Syndrom als eine Art "Familienschande" betrachten. Das ist selbstverständlich alles andere als förderlich und macht das Selbstbild junger Mädchen kaputt. Aber auch das kommt mittlerweile zum Glück so gut wie gar nicht mehr vor. Trotzdem kann man es auch heute noch erleben, dass Turner-Frauen sich dafür schämen, dass sie diesen Chromosomenfehler haben, oder dass sie zumindestens nicht darüber reden möchten und nicht wollen, dass jemand davon weiß. Vor allem wohl auch, weil man Angst hat, dass die Leute einen dafür ablehnen können, schlecht über einen reden könnten oder einfach, dass es als Schwäche ausgelegt wird. Und selbstverständlich muss auch jede selbst entscheiden, wem sie davon erzählen möchte oder wer davon wissen darf. Niemand soll gegen seinen Willen "geoutet" werden.

 

Manche Betroffene sehen sich selbst als völlig normale Menschen und wollen auch so gesehen werden, sie möchten das Syndrom gar nicht weiter thematisieren und interessieren sich auch nicht weiter dafür. Für manche mag dies der richtige Weg sein, mit dem Turner-Syndrom umzugehen.

Und es kommt auch heute noch vor, dass Betroffene erwachsen werden, ohne jemals zu erfahren, dass sie das Turner-Syndrom haben. Meist wird es dann im Zuge einer Kinderwunschbehandlung oder aufgrund der ausbleibenden Pubertät festgestellt. Sicherlich, dann ist man praktisch wirklich als völlig normales Mädchen aufgewachsen, und die Diagnose, die man ja zuerst einmal nicht einordnen kann, ist ein großer Schock. Am besten ist dann der Kontakt zu anderen erwachsenen Betroffenen, die vieles erklären und von ihren eigenen Erfahrungen berichten und beruhigen können.

 

Ich denke vor allem, dass es wichtig ist, sich für das UTS zu interessieren. Dann weiß man einfach besser, worauf man bei seinem eigenen Körper achten sollte und in welchen Bereichen man vielleicht mehr tun sollte als so manch Anderer. Es tut auch gut, Kontakt zu anderen Betroffenen zu halten. So kann man sich gegenseitig unterstützen und Erfahrungen austauschen, um so Gemeinsamkeiten zu finden, die man in keiner Literatur nachlesen kann.