Vorurteile.

Als Kind hatte ich eine sehr gute Freundin mit Turner-Syndrom. Bei ihrer Einschulungsuntersuchung wurde zu ihrer Mutter gesagt: Sie wissen ja, dass es (!) ein Fall für die Sonderschule ist.

Später hat sie Abitur gemacht, genauso wie ich.

Noch immer höre ich Fragen, wie und wem man denn erzählen dürfe, dass man Turner-Syndrom hat. (Klare Antwort: Wem du es erzählen möchtest!)

Noch immer gibt es Eltern, die ihren Kindern verbieten, jemandem zu erzählen, dass sie UTS haben. Genauso wie auch meine Eltern früher. Solange, bis die Kinder sich selbst nicht mehr trauen, offen damit umzugehen.

Ärzte und Hebammen zeigen auf kleine Turner-Mädchen, weisen darauf hin woran man bei ihnen angeblich das Syndrom sehen kann.

Eltern machen sich Gedanken, ob sie im Kindergarten oder in der Schule sagen sollen, dass das Kind UTS hat, weil es den Stempel "behindert" bekommen könnte und spezielle Förderprogramme auferlegt werden. Eine Mutter berichtet in einer Facebook-Gruppe sogar, dass ihr Kind deshalb aus der Kita geflogen ist und in der Gemeinde keinen Platz bekommen hat, weil es in einen integrativen Kindergarten müsse.

Noch immer ist die Diagnose UTS beim Ungeborenen ein Abtreibungsgrund. Und zwar einer, der auch eine Spätabtreibung in Deutschland noch zulässt.

 

Eigentlich hat alles davon mit Vorurteilen zu tun. Weil eben leider oft auch medizinisches und pädagogisches Personal nicht wirklich Ahnung davon hat, was UTS ist, was es mit sich bringt und wie die Betroffenen leben.

Klar, Eltern von Turner-Mädchen tauschen sich viel über Physiotherapie und Frühförderung aus. Es ist ja auch wunderbar, dass es diese Möglichkeiten gibt. Vielen Kindern hilft das sicherlich sehr, und bei Turner-Syndrom sind solche Maßnahmen mit Sicherheit in vielen Fällen auch sinnvoll, je nachdem wie es im Einzelfall ausgeprägt ist.

Ich selbst habe keine Erfahrung mit Frühförderung und Physiotherapie, da ich sie nie gebraucht habe. Deshalb werde ich hier auch nicht darüber urteilen, wie sinnvoll sie sind oder wie oft sie vielleicht unnötig sind. In erster Linie ist es super, dass es solche Dinge gibt. Schlecht ist aber, wenn pauschal irgendwelche Fördermaßnahmen verordnet werden, nur aufgrund einer Diagnose und nicht nach Erfordernissen.

Nicht ohne Grund haben Eltern Angst, dass ihr Kind einen Stempel aufgedrückt bekommen könnte. Der Stempel heißt im Bewusstsein der Leute nun einmal "behindert" und nicht einfach "Turner-Syndrom". Und in den Köpfen der Leute bilden sich manchmal (allerdings zum Glück nur im schlimmsten Fall) die wildesten Theorien, was an so einem "Syndrom" so alles hängen könnte und was das Kind alles mal nicht können wird. Besonders problematisch für Eltern von Kleinkindern... die noch nicht wissen, wie sich ihr Kind mal entwickeln wird, aber eventuell schon alle möglichen Flöhe ins Ohr gesetzt bekommen und vor allem erleben müssen, wie ihr Kind eben als behindert abgestempelt wird. Glücklicherweise ist es dank der sozialen Medien recht einfach, sich verschiedene Meinungen anzuschauen und zu Betroffenen selbst Kontakt aufzunehmen.

 

Eigentlich gibt es nur eine Ursache für all diese (und auch alle anderen) Vorurteile: mangelndes Wissen. Wer weiß denn schon, was UTS ist und wie man damit lebt, wenn er nicht gerade selbst betroffen ist, Betroffene kennt oder beruflich damit zu tun hat? Die Wenigsten werden sich an die Biostunde erinnern, in der der Lehrer etwas über X0 erzählt hat. Und eine solche Biostunde gibt es wohl auch nur auf dem Gymnasium.

Genau genommen können Menschen mit Vorurteilen gar nicht viel für ihre Vorurteile. Manchmal muss man sich fragen: Woher sollen sie es denn auch wissen? Kann man immer wissen, ob ein vielleicht unbedacht eingeworfener Kommentar über ein Kind eine Mutter wirklich arg verletzen kann? Kann man jedes Syndrom genau kennen, selbst wenn man Arzt ist?

 

Das Schubladendenken kann also nur weniger werden, wenn wir selbst vom Turner-Syndrom erzählen und es bekannter machen. Wenn wir anderen zeigen, wie wir unser Leben meistern trotz UTS. Wenn wir selbst klarstellen: Wir sind normale Menschen, die normal ihr Leben leben und Förderung oder medizinische Hilfe eben wie jeder andere Mensch je nach Erfordernissen brauchen. Nicht darüber zu reden oder einem Kind zu verbieten, darüber zu reden, wird es jedenfalls nicht besser machen. Im Gegenteil, Kinder haben dann den Eindruck, es sei etwas, wofür sie sich schämen müssten. Was falsch oder schlecht an ihnen sei. Und: Sie wollen ja manchmal auch einfach raus damit. Sich austauschen. Sehen, wie die Leute reagieren. Oder einfach was Ungewöhnliches über sich erzählen. Mir jedenfalls ging es so, ich konnte es fast nicht bei mir behalten, ich wäre fast geplatzt.

Klar ist auf jeden Fall: Je mehr Leute das Turner-Syndrom kennen und wenigstens einen kleinen Einblick in das Leben damit haben, desto weniger wird es passieren, dass man mit Turner-Syndrom sofort den Stempel "behindert" bekommt. Also lasst uns davon erzählen! Je mehr Leute davon wissen, desto besser ist es.