Ist meine Tochter überhaupt eine richtige Frau, wirklich eine "Tochter"? Oder nur ein halbes Mädchen? Drittes Geschlecht?
Auch diese Gedanken gehören zu den Vorurteilen über das Turner-Syndrom, die kursieren. Nicht aus bösem Willen, sondern einfach, weil man es nicht besser weiß.
Ja, als Turner-Frau kommt man nicht darum herum sich mit seinem Selbstbild als Frau auseinanderzusetzen. Um in die Pubertät zu kommen brauchen wir Hormone und auf natürlichem Wege schwanger werden können wir auch nur in den seltensten Fällen. Eine Turner-Frau hat damals geklagt, damit ein drittes Geschlecht eingeführt wird, dem sie/er sich zugehörig fühlt. Es heißt seitens der Medizin immer wieder, aufgrund unserer Genetik könne man uns keinem Geschlecht zuordnen, als ob das Geschlecht nur vom zweiten Geschlechtschromosom abhängen würde. (Dabei ist das genau genommen fachlich sogar falsch: Bei Turner-Syndrom ist der Phänotyp, also das auf der Grundlage seiner Gene fertig ausgeprägte Wesen, eindeutig weiblich. Daher ist das Turner-Syndrom für die Biologen der Beweis dafür, dass die männliche Geschlechtsentwicklung durch das Y-Chromosom ausgelöst wird.)
Also erstmal fällt anscheinend bei uns schon einiges, was man mit dem Begriff "Frau" assoziiert, weg. Zumal auch noch die wenigsten von uns den klassischen Schönheitsidealen entsprechen. Das tun zwar auch die wenigsten genetisch unauffälligen Frauen, aber viele von uns haben keinen klassisch weiblichen Körperbau, sondern eher breite Schultern, einen breiten Brustkorb, einen ebenso breiten, starken Rücken und dann noch kurze Beine. Wie ich in einer Infobroschüre als Kind einmal lesen durfte: Turner-Frauen sind nicht gerade Ballerinas, die elegant ihre Pirouetten drehen.
Und das alles gehört nun einmal zu unserem Bild einer Frau: Dass sie ein zartes, schlankes und eher unauffälliges, zurückhaltendes und angepasstes Wesen ist, auf ihr Äußeres achtet, eine liebevolle Mutter ist und das Familienleben organisiert, sehr sozial kompetent ist und gerne viel Zeit mit Anderen verbringt und stundenlange Gespräche führt, auch liebend gerne Intrigen spinnt, lästert und zickt, sich viel lieber um den Haushalt kümmert als Männer das tun, eher emotional ist, dass sie auch so ein bisschen die arme Benachteiligte ist, die sich irgendwie im heutigen Zwiespalt zwischen Karriere und Familie behaupten muss.
Weibliche Stärken und das, wofür man Frauen im allgemeinen achtet, sind gerade solche Dinge wie liebevolle Aufopferung für Familie und Kind, am besten noch mit einer erfolgreichen, beruflichen Karriere gepaart, kluges taktieren in sozialen Beziehungen und nicht zuletzt eben das gute Aussehen und wie stark man sich dafür einsetzt. Man sagt nicht umsonst, dass hinter einem starken Mann eine noch stärkere Frau steht, Frauen gelten auch als weise Berater und Strippenzieher. Und ich rede hier nicht unbedingt davon, dass Männer Frauen für diese Dinge achten, sondern vor allem Frauen bewundern und neiden solche Dinge an anderen Frauen.
Turner-Frauen wollen in den allermeisten Fällen voll und ganz Frauen sein und auch so gesehen werden. Und damit sind wir meiner Meinung nach auch voll und ganz Frauen, ohne Abstriche. Aber es ist für uns weniger selbstverständlich. Die Frage, ob wir mit unserem gedrungenen, oft von uns selbst als unattraktiv und unweiblich empfundenen Körperbau und noch dazu mit unserer Unfruchtbarkeit und der für die Menstruation notwendigen Hormontherapie vollwertige Frauen sind, kommt immer auf. Meistens eben in der Pubertät, wo Geschlechterrollen, in die man gerade hineinwachsen soll, ja sowieso das Thema überhaupt sind.
Mich persönlich hat das alles während der Pubertät sehr verunsichert. Ich empfand Frauen als schwach, als körperlich Männern unterlegen und auch psychisch eher labil und mit all dem Make-Up- und Klamotten-Hype auch als eher oberflächlich. Das typisch weibliche Intrigen spinnen und Manipulieren empfand ich als äußerst gemeine Angriffe, denen ich meist schutzlos ausgeliefert war.
Irgendwann habe ich verstanden, dass Frauen gerade dadurch, dass sie auf ihr Äußeres achten und die Sanften, Zurückhaltenden sind, die aber auch gewaltig manipulieren und intrigieren können, ihren Erfolg haben.
Außerdem habe ich verstanden, dass ich wohl nie gut in diesen Frauen-Skills sein werde. Dazu reichen meine soziale Kompetenz und wein Wille zur Angepasstheit nicht aus. Ich habe angefangen, Kampfsport zu machen und hatte zeitweise kurze Haare, eine Krawallschachtel war ich ohnehin als Kleinkind schon. Ich bin eben der Kampfzwerg in allen Lebenslagen.
Ich habe mich auch gegen die Hormone gewehrt, ich wollte nie eine Frau sein. Ich hatte wirklich kein sehr positives Frauenbild. Jedenfalls keines, dem ich entsprechen wollte oder konnte. Außerdem war ich der Meinung, durch das Turner-Syndrom hat man ja vom Frausein nur die Nachteile: Man kann keine Kinder bekommen, durch die Hormontherapie hat man aber trotzdem mit Regelbeschwerden zu kämpfen. Und eben weil ich schlecht in Frauen-Skills war, ging ich auch fest davon aus, dass sich ohnehin niemals ein Mann für mich interessieren würde.
Egal, mit meinem Mann hat es eben doch geklappt und wir sind jetzt seit fast 15 Jahren zusammen und gründen unsere Familie mit Hilfe von Eizellspende. Zeitweise hat es mich allerdings arg gequält, dass ich mich den anderen Frauen gegenüber immer im Nachteil sah und keine Chancen bei Männern hatte.
Aber ganz ehrlich: Bin ich deswegen weniger Frau als die anderen? Bin ich weniger Frau als andere Frauen, weil ich mein Kind durch eine Eizellspende bekommen werde? Oder weil mir ein Chromosom fehlt, das "normale" Frauen haben? Weil mein Körper nicht aussieht wie der einer Standartfrau? Nein, ganz bestimmt nicht.
Mit unserem neuen Blick auf das biologische und soziale Geschlecht, der immer größer werdenden Anerkennung von Transgender und dem dritten Geschlecht sollte man sich vielleicht ohnehin von einer starren Sicht der Dinge verabschieden. Die Übergänge zwischen männlich und weiblich sind fließend, also warum sollten wir uns in von Geschlechterklischees geprägte Schubladen stecken lassen? Natürlich haben Männer auch weibliche Eigenschaften und Frauen haben auch männliche Eigenschaften, mal mehr, mal weniger. Und das muss auch so sein, schließlich sind wir alle Menschen.
Ich habe irgendwann gelernt, dass ich auf meine eigene Art Frau sein muss. Anders kann ich es nun einmal nicht. In erster Linie bin ich eben Mensch, mit allen Interessen, Stärken und Schwächen, die ich habe. Und als Mensch bin ich eben Frau. Kein Mensch ist doch auf die Welt gekommen, um in Geschlechterrollen oder Schönheitsideale zu passen. Und Frausein ist auch mit Sicherheit nicht dadurch definiert, wie sehr man irgendwelchen Geschlechterrollen entspricht. Jede Frau ist zuerst ein Mensch und ein Individuum, egal ob mit Turner-Syndrom oder nicht. Und jede ist auf ihre eigene, einzigartige Art Frau und soll das auch sein.