Ich habe mich lange durchringen müssen, diesen Artikel zu schreiben. Wieso schreibe ich als Turner-Frau, die nie in die Lage kommen wird, ungewollt schwanger zu sein, über Abtreibung? Was hat das mit mir zu tun? Will ich etwa über Menschen urteilen, die sich in einer Lage befinden, in der ich mich niemals befinden werde und deren Emotionen ich niemals nachempfinden können werde?
Nein, ich will über niemanden urteilen. Aber doch, das Thema hat mit uns und mit dem Turner-Syndrom zu tun. Und zuerst will ich erklären, warum.
Wir Turner-Frauen sind zunächst einmal Frauen, die ja auf natürliche Art und Weise keine Kinder bekommen können und oftmals ungewollt kinderlos bleiben. Ungewollte Kinderlosigkeit und ungewollt Mutter werden sind für mich die gegensätzlichen Pole derselben Fragestellung: Will und kann ich Mutter sein oder nicht? Und deshalb bin ich der Meinung, dass man auch beides nicht getrennt voneinander diskutieren sollte.
Gemäß dem Embryonenschutzgesetz ist ein Embryonentransfer, wie ihn Frauen, die über keine eigenen Eizellen verfügen, benötigen, um schwanger zu werden, in Deutschland verboten.
Das deutsche Abtreibungsgesetz sieht vor, dass Abtreibung verboten, aber unter bestimmten Umständen straffrei beziehungsweise zugelassen ist, zum Beispiel wenn eine Schwangerenkonfliktberatung vorgenommen wurde bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft, wenn die Schwangerschaft durch einen Gewaltakt zustande gekommen ist oder medizinische Gründe einen Abbruch der Schwangerschaft erfordern.
Falls medizinische Gründe gegen eine Fortführung der Schwangerschaft sprechen, kann sie auch bis kurz vor der Geburt noch abgebrochen werden. Ein solcher Grund liegt auch vor, wenn das ungeborene Kind das Turner-Syndrom hat.
Man könnte die Rechtslage in Deutschland also so zusammenfassen, dass uns zwar mit unserem Kinderwunsch nicht geholfen wird, da Eizellspende verboten ist, andererseits darf man aber auch ungeborene Mädchen mit Turner-Syndrom abtreiben.
Es wird wohl keine Frau sich die Entscheidung für eine Abtreibung leicht machen. Aber dennoch ist das Turner-Syndrom für viele junge Mütter und auch Ärzte definitiv ein Abtreibungsgrund. Und mittlerweile kann man es auch schon recht früh und recht sicher diagnostizieren, zum Beispiel mit einer Fruchtwasseruntersuchung oder sogar mit dem Panoramatest, mit dessen Hilfe ja recht einfach durch eine Blutprobe der Mutter herausgefunden kann, ob ein Chromosomenfehler beim Kind vorliegt. Diese Untersuchungen werden allerdings nur dann empfohlen, wenn zum Beipiel im Ultraschall Verdachtsmomente aufgetreten sind, sie werden also noch längst nicht bei jeder Schwangeren gemacht, und der Panoramatest ist ohnehin eine recht teure Untersuchung, die man selbst zahlen muss und die von der Krankenkasse nicht übernommen wird. Man kann also keineswegs sagen, dass hier eine Art automatische Auslese stattfindet.
Wird das Turner-Syndrom dann aber festgestellt, wird leider doch häufig eine Abtreibung empfohlen oder die werdende Mutter entscheidet sich dafür, oftmals natürlich auch deshalb weil das ungeborene Kind so schwere Schäden durch das Syndrom davongetragen hat, dass seine Überlebensschancen sehr gering sind. Ofmals aber auch einfach weil die werdende Mutter mit der Diagnose Turner-Syndrom nichts anfangen kann, weil sie es nicht kennt und dann auch einfach die Angst vor dem überwiegt, was mit dem Kind geschehen könnte und wie es aussehen könnte.
Ich habe von werdenden Mamis schon Foreneinträge gelesen, die in etwa lauteten (keine wörtlichen Zitate): "Wir sind eine sehr aktive Familie und viel draußen unterwegs. Es wäre schlimm für mich, wenn das Kind bei unseren Unternehmungen nicht teilnehmen könnte" oder "Wir sind zwar Christen und wollen das Kind behalten, wir würden es niemals abtreiben, aber ich weiß nicht, ob ich es lieben kann, wenn es vielleicht komisch aussieht".
Nein, ich bin nicht sauer deswegen. Solche Aussagen entstehen aus Unwissenheit heraus. Eben deshalb ist mir Aufklärungsarbeit so wichtig. Trotzem ist es ernüchternd, wenn man daran denkt, dass man selbst "so ein Kind" ist.
Und es gibt sehr viele werdende Mütter von Turner-Mädchen die ihr Kind annehmen, mit ihm und um es kämpfen weil es manchmal zu schweren Komplikationen kommt.
Ich möchte Schwangeren mit Turner-Syndrom Mut machen. Ja, es ist so, dass Föten mit Turner-Syndrom mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sterben. Aber es kann sich wirklich lohnen, für sein Kind zu kämpfen. Und wenn man ein bisschen sucht wird man Gleichgesinnte im Internet finden und Kontakt aufnehmen können, sowohl zu Betroffenen als auch zu jungen Eltern oder solchen, die wegen Turner-Syndrom ihr Kind verloren haben. Heutzutage ist mit so etwas gottseidank niemand mehr allein!
In der Regel lebt man mit Turner-Syndrom ein annähernd normales Leben, das werden viele Betroffene bestätigen. Zwar haben wir schon manchmal mit Problemen zu kämpfen, aber das haben Frauen ohne Turner-Syndrom auch nicht selten. Das Turner-Syndrom muss kein Schreckgespenst sein, wir tun ja obwohl wir es haben alles, was andere auch machen. Wir lernen, arbeiten, haben Hobbys und machen Sport, putzen uns gerne auch mal heraus, sind kreative kleine Wirbelwinde mit Kämpferherz, verlieben uns und gründen oft sogar Familien. Und das sind doch schöne Dinge, die man sich für seine Tochter mit Turner-Syndrom vorstellen kann, auch wenn sie noch gar nicht auf der Welt ist.