Jeder stellt sich irgendwann einmal die Frage: Bin ich normal?
Wir urteilen auch sehr häufig über die Normalität oder Anormalität anderer Menschen. Jeder von uns hat wohl einmal den Satz gesagt "Der ist doch nicht normal!"
Aber was bedeutet dieses "normal" jetzt im Bezug auf einen Menschen? Es ist ja relativ einfach, für Gegenstände wie zum Beispiel Küchengeräte oder elektrische Anschlüsse Normen festzulegen. Die brauchen wir auch, weil sie Sicherheit und weniger Aufwand bei der Handhabung der entsprechenden Geräte bedeuten.
Bei Menschen halten wir ja zunächst einmal jeden für normal, der sich von der großen Masse nicht sehr unterscheidet. Der eben irgendwie in unser Menschenbild passt. Menschen aus unserem Kulturkreis mit der dort üblichen lebensweise und den dort üblichen Problemen. "Normal" braucht auch immer eine Art Referenzgröße. Für eine Frau ist noch längst nicht alles normal, was für einen Mann normal ist und umgekehrt. Für einen Italiener gelten andere Maßstäbe als für einen Chinesen, für ein Kind andere, als für einen Erwachsenen und für einen Kranken andere, als für gesunde Menschen.
Wir Turner-Frauen entsprechen eben auch nicht der Norm, nicht dem Frauenbild, was als normal oder gar ideal in unserer Gesellschaft vorherrscht. Wir sind klein, meist zumindest leicht übergewichtig, jede von uns hat ihre eigenen, mehr oder weniger ausgeprägten, Defizite und gesundheitlichen Probleme. Meist entsprechen wir nicht dem gängigen Schönheitsideal.
Mein Mann sagt immer: Ihr Turner-Frauen sind genau zwischen behindert und normal, ihr könnt genau deshalb auch ein Bindeglied sein zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen. Und seit er mich kennt, mag er das Wort "normal" gar nicht mehr, ich habe seine Maßstäbe da wohl etwas gesprengt...
Tatsächlich denke ich, dass man das Turner-Syndrom nur bei wirklich schweren Fällen als Behinderung bezeichnen kann. Eventuell kann man dann sogar einen Behindertenausweis beantragen, je nachdem welche Symptome ausgeprägt sind.
Ich jedenfalls fühle mich keineswegs behindert. Ich fühle mich auch nicht großartig eingeschränkt durch mein Turner-Syndrom. Aber anders als andere, "normale", Frauen fühle ich mich schon. Damit spreche ich selbstverständlich nur für mich selbst, natürlich gibt es auch viele Turner-Frauen, die das anders sehen. Für manche ist das Turner-Syndrom eine Krankheit, für die wenigsten gilt es als Behinderung. Viele sehen sich als ganz normale Menschen.
Vielleicht empfinde ich mich deshalb nicht als "normale" Frau, weil ich in meiner Kindheit durch die gesundheitlichen Probleme schon andere Erfahrungen gemacht habe, als die meisten Menschen. Dass ich so klein war und bin, hat dazu geführt, dass ich schon früh lernen musste, mich durchzubeißen (was nicht das Schlechteste war und was wohl fast jede Turner-Frau erlebt).
Irgendwie gehört man halt doch zu einer speziellen Community, wenn man das Turner-Syndrom hat. Mir jedenfalls fällt der Kontakt zu anderen Betroffenen wesentlich leichter, als zu nicht-Betroffenen und ich kann mich mit ihnen wesentlich besser identifizieren, als mit anderen Frauen, was ja irgendwie logisch ist.
Zumindest ich kann das Turner-Syndrom nicht wegdenken. Wenn ich mich alleine daran erinnere, wie schwierig es für mich war, Auto Fahren zu lernen. Ich kenne auch eine Betroffene, die nach ein paar Fahrstunden ganz aufgegeben hat. Solche Schwierigkeiten kommen häufig bei Turner-Syndrom vor und hängen wohl mit dem schlechten räumlichen Vorstellungsvermögen zusammen.
Natürlich ist auch die Kinderlosigkeit etwas, worunter viele von uns sehr stark leiden. Viele finden jedoch Ihren Weg, damit umzugehen. Manche kämpfen dafür, trotz aller Hindernisse doch noch eine Familie zu gründen.
Außerdem kann man sehr oft von Turner-Frauen hören, sie fühlten sich langsamer als Andere, hätten ein schlechtes Gedächtnis, gerade von amerikanischen Betroffenen kann man oft von Lernschwierigkeiten, Angststörungen und Depressionen hören.
Wenn wir anders sind als Andere, dann deshalb, weil wir einfach mit mehr kleinen und großen Hindernissen und Problemen in unserem Leben zu kämpfen haben, als die meisten anderen Menschen. Und wir haben deshalb auch eine etwas andere Sicht der Dinge. Wie schon gesagt hat natürlich auch jede Turner-Frau ihre eigene Sicht der Dinge, manche werden sagen, dass sie ein ganz normales Leben führen in dem es im Vergleich zu normalen Frauen keine großen Probleme gibt, und andere werden sagen, dass ihr Leben wegen Turner-Syndrom der Horror ist. Das hängt ja auch davon ab, wie stark das UTS jeweils ausgeprägt ist.
Ich jedenfalls empfinde vieles, was Andere als schlimm empfinden, noch längst nicht als schlimm. Man vergleicht eben alles mit dem, was man selbst erlebt hat.
Mir ist deshalb bewusst, wenn ich schildere, womit man mit Turner-Syndrom im Alltag zu kämpfen hat und was für Schwierigkeiten man deshalb hat, dann kann das wie eine Horrorgeschichte auf werdende Eltern wirken, die nicht selbst betroffen sind. Die denken möglicherweise: "oh mein Gott, was wird mein Kind durchmachen müssen?!"
Für mich ist es eben nichts Schlimmes, sondern einfach mein Leben. Ich kenne es nicht anders und für mich ist es eben normal, mit dem Turner-Syndrom zu leben. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen.
Ja, es ist nicht ganz leicht. Das ist das Leben von gesunden Menschen auch nicht immer. In jedem Menschenleben gibt es Herausforderungen und Probleme, davor kann man sein Kind nicht beschützen oder bewahren, so gerne man das täte. Und ich bin stolz darauf, dass ich alles soweit gemeistert habe und mich durchgebissen habe. Für mich ist es beileibe nichts Negatives, dass ich mich manchmal wirklich durchkämpfen musste und das immer müssen werde.