Im November 2017 gab es eine riesige Diskussion. Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert, dass bis Ende 2018 die Möglichkeit geschaffen werden muss, im Geburtenregister ein drittes Geschlecht, "divers", angeben zu können.
Kläger war Vanja, 26, Turner-Syndrom. Und endlich hörte man mal etwas über das Turner-Syndrom in den Medien. Es sei nur ein X-Chromosom vorhanden und damit keine klare Zuordnung zu einem Geschlecht möglich.
Betroffene und deren Mütter reagierten verständlicherweise zuerst verstört und wütend. Ich auch. Wieso soll aufgrund des fehlenden Chromosoms keine klare Zuordnung zu einem Geschlecht möglich sein? Man kann in der Fachliteratur überall lesen, dass das Turner-Syndrom nur bei Frauen vorkommt, da kein Y-Chromosom vorliegt, das die männliche Geschlechtsentwicklung auslöst. Eben weil bei Turner-Syndrom weibliche Geschlechtsmerkmale ausgebildet werden, gilt den Biologen ja das Turner-Syndrom als Beweis dafür, dass das Y-Chromosom die männliche Geschlechtsentwicklung auslöst.
Es steckt allerdings offensichtlich noch viel, viel mehr hinter der Debatte. Zunächst einmal muss man ja Intersexualität ganz klar von Transsexualität und Transgender unterscheiden. Transsexualität würde bedeuten, "im falschen Körper zur Welt gekommen" zu sein, also sich dem anderen als dem biologischen Geschlecht zugehörig zu fühlen und sich dem anderen Geschlecht auch angleichen zu wollen, zum Beispiel durch eine Geschlechtsumwandlung. Transgender-Menschen möchten sich oft gar nicht einem Geschlecht eindeutig zuordnen.
Die offizielle, medizinische Definition von Intersexualität lautet, dass eben bei einem intersexuellen Menschen aufgrund seines Erscheinungsbildes, seiner Genetik und/oder hormoneller Situation keine klare Geschlechtszuordnung möglich ist. Im Grunde genommen zählt dazu jegliche Form von Abweichungen der Geschlechtschromosomen, hormonellen Störungen, Fehlbildungen der Keimdrüsen und andere anatomische Varianten. Das Turner-Syndrom gehört gemäß dieser Definition auch dazu.
Der Punkt, der die Diskussion verschärft ist, dass sehr viele Intersexuelle Menschen während ihrer Kindheit operiert oder behandelt werden, um sie einem Geschlecht anzugleichen. Die fühlen sich natürlich auch zu recht ungerecht behandelt, vor allem weil wohl viele der Erscheinungsformen von Intersexualität nicht eigentlich behandlungsbedürftig wären.
Das gestaltet sich aber beim Turner-Syndrom etwas anders, deshalb ist es vielleicht eine Sonderform von Intersexualität. Turner-Mädchen sind ja anatomisch ganz klar zuerst einmal weiblich, man muss uns nicht operieren oder hormonell behandeln, damit wir wie Mädchen aussehen. Bekanntermaßen müssen aber zumindest bei den meisten von uns Östrogene gegeben werden, um die Pubertät auszulösen. Hier besteht aber eine ganz klare medizinische Notwendigkeit für die Behandlung, sie ist ja unter Anderem auch für Blutgefäße und Knochen wichtig. Und sie wird auch von fast allen Turner-Frauen absolut erwünscht, da wir uns als Frauen empfinden und auch so wahrgenommen werden wollen. Wir wollen als vollwertige Frauen gelten, es sei denn wir sind zusätzlich zum UTS Transgender oder Transsexuell. Die meisten von uns können mit einer Eizellspende ein Kind austragen, manche adoptieren auch ein- oder mehrere Kinder und finden trotz UTS in ihrer Mutterrolle Erfüllung. Andere verwirklichen sich auf andere Art als Frau selbst.
Schlimm ist vor allen Dingen, dass viele junge Mütter und junge Mädchen mit UTS durch die Diskussion um Intersexualität und das dritte Geschlecht natürlich verunsichert sind. Ist sie jetzt ein Mädchen oder Intersexuell? Bin ich nun ein Mädchen oder ein Junge oder irgendwas dazwischen? Soll ich sie behandeln wie ein Mädchen? Oder eine Frage, die bei Schwangeren aufkommen könnte, die von dem Urteil gelesen haben: Wird mein Kind ein Zwitter sein? Soll ich es gleich als "divers" eintragen lassen?
Zu recht wurde angemerkt, dass das nun ein Abtreibungsgrund mehr ist. Und für junge Turner-Mädchen in der Pubertät, denen die Identitätsfindung ohnehin schon schwerer fällt als Anderen, weil die Pubertät durch Hormone eingeleitet wird und sie wissen, dass sie keine eigenen Kinder bekommen können werden, ist eine solche, zusätzliche Verunsicherung eine Katastrophe.
Meine Meinung ist, dass es vor allen Dingen falsch ist, sich deshalb unter Druck zu setzen. Es gibt nur sehr, sehr wenige Ausnahmen, in denen Turner-Frauen sich nicht als Frauen fühlen. Und wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, dann wird es ganz von alleine zum Ausdruck kommen, so wie bei allen anderen Kindern auch. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Turner-Mädchen nicht von Anderen.